Junker Stamer von Lüchow
( von Hans Rinck )

Im Ratzeburger Zehntenregister von 1230 ist Lüchow, das weltabgeschiedene Dorf, zum ersten Mal genannt. Das Jahr seiner Gründung steht nicht fest, der Name lässt nur erkennen, dass es sich um eine slawische Gründung handelt. 1230 gehört es zum Kirchspiel Nusse, erst 1314, als der Bischof die Kirche zu Sandesneben einweiht, wird auch Lüchow nach dort eingepfarrt. Die Siedlung ist einmal als einwandfreier Rundling angelegt worden, der noch heute gut erkennbar ist, und der Ausschnitt aus der Flurkarte von 1771 beweist dies ebenfalls in aller Deutlichkeit.

Wir wissen nicht, wer die Bauern waren, die das Dorf gründeten, und in den ersten Jahrhunderten die wald- und buschbestandene Lüchower Feldmark westlich des ausgedehnten Duvensees rodeten und beackerten, denn erst aus dem Jahre 1513 stammen die ältesten Namensregister. Aus ihnen erfahren wir erstmalig, welche Bauernfamilien damals in Lüchow ansässig waren, und auch die erstaunliche Tatsache, dass allein 5 der 9 Gehöfte im Dorf damals Stamerstellen sind. Auf A wohnte Hinrich, auf G Hans, auf H Detlev und auf J Hinrich Stamer. Und mit Sicherheit ist der Besitzer von F, Hinrich Pawels, ebenfalls ein Stamer, denn sein Nachfolger Claus Pawels, heißt 1550 und 1553 Claus Stamer, 1557 wieder Claus Pawels, ab 1558 bleibt es dann bei Claus Stamer. Der Hinrich Pawels von 1513 ist wahrscheinlich der Sohn eines Pawel (Paul) Stamer, über den sonst keine Angaben vorliegen.

Die vielen Stamer in einem Dort mussten natürlich eindeutig gekennzeichnet werden, lediglich mit Hilfe der Vornamen war das nicht gut möglich, denn alle führten immer nur die üblichen Vornamen Hinrich, Hans, Jochim oder Claus. Der Bauernvogt Hinrich Stamer auf A hieß darum einfach nur „de Burmeister“, Hans Stamer auf G wiederholt „ de Koter“ = Kätner, denn sein Gehöft war anfänglich eine Katstelle. Oft finden wir Olde Hans Stamer und Junge Hans Stamer, Jochim den Älteren und Jochim den Jüngeren, Hinrich Stamer senior und Hinrich Stamer junior, ohne dass es sich bei ihnen immer um Vater und Sohn handelt. Und sicherlich mussten für den Hausgebrauch auch Spitznamen, „Ökelnamen“ herhalten, um die vielen Stamer zu unterscheiden. Sie sind jedoch nicht überliefert, nur einer, der auch einige Male im Sandesnebener Kirchenbuch und oft in amtlichen Akten verzeichnet ist, blieb uns erhalten. Ein Nachfahre jenes Hinrich Pawels von 1513 auf F, Hinrich Stamer, wurde „Junker Stamer“ genannt, auch noch dessen Sohn Johann. Aus dem bewegten Leben dieses Junker Stamer und der Geschichte der Hufe F, die heute Richard Koop Witwe besitzt, soll nun berichtet werden. Von den ersten Besitzern der Hufe F sind nur dürftige Nachrichten erhalten, wir wissen nicht viel mehr als ihre Namen und die Jahreszahlen, in denen sie auf der Stelle nach gewiesen sind:

  • 1513 - 1532 Hinrich Stamer ( Pawels)
  • 1536 - 1564 Claus Stamer ( Pawels )
  • 1626 - 1636 Claus Stamer
  • 1637 - 1667 Jochim Stamer
  • 1680 - 1702 Claus Stamer

Unter Claus und Jochim Stamer, ab 1626 erlebt Lüchow die Schrecken des 30-jährigen Krieges mit seinen drückenden Abgaben und immerwährenden Einquartierungen, es scheint aber, dass die Hufe F die Drangsale ohne dauernde Schäden überstanden hat, denn der Viehbestand von 1633 beträgt 7 Pferde, 10 Kühe und 6 Ochsen und ist sehr beachtlich. Und sein Nachfolger Jochim Stamer, der 1639 mit seiner gesamten Habe abbrennt, kann 1648 immer noch 6 Pferde, 6 Kühe und 6 Ochsen sein Eigen nennen. Unter Jochim Stamer wird 1667 ein neues Grundbuch des Amtes Steinhorst angelegt. Danach ist Jochim Stamer ein „alter Hufner“ , sein Gehöft also eine ursprüngliche Hufe, im Gegensatz zu den „gemachten Hufnern“ G und J , den ehemaligen Kätnern. Er besitzt ein Wohnhaus von 8 Fach, dazu auch schon einen Altenteilskaten von 3 Fach und eine „alte Scheure“ gleicher Länge. Kein Hufner erntet soviel „Wiesenwachs“ wie er, nämlich 18 Fuder, und sein Viehbestand, 4 Pferde, 4 Ochsen und 5 Kühe, ist beträchtlich, obwohl die Abnahme seit 1648 in die Augen fällt.

Etwa vom Beginn des 18. Jahrhunderts an kann die Geschichte der Hufe F lückenlos verfolgt werden, zumal auch 1687 die Sandesnebener Kirchenbücher (Taufregister) einsetzen. Claus Stamer, „der junge Wirt“, hat wahrscheinlich 1702 die Stelle von seinem Vater übernommen und geheiratet, denn ab 1703 werden seine Kinder geboren, zehn an der Zahl. Von 4 Söhnen blieben nur 2 am Leben, der 1712 geborene Hinrich und der 1714 geborene Jochim. Über den Verbleib der 6 Töchter ist nichts bekannt, da die Trau- ­und Sterberegister erst 1753 beginnen. Der am 27.1.1712 geborene Hinrich Stamer heiratet 1742 Margret Martens, eine Hufnerstochter aus Schiphorst und wird der Nachfolger seines Vaters auf F. Er ist derjenige seines Stammes ,der künftig „Junker Stamer“ genannt wird und Jahre hindurch Lüchow und das ganze Amt Steinhorst in Atem hält, und dessen Geschichte hier vornehmlich behandelt werden soll.

Wie sah es damals im Amte Steinhorst aus, und wem waren die Bauern Gehorsam schuldig?

Oft schon hatten die Steinhorster Dörfer ihren Besitzer gewechselt, zuletzt erst vor wenigen Jahren, im August 1739, als Gottfried von Wedderkop das ganze Amt an Hannover verkaufte. Der Kurfürst von Hannover - gleichzeitig König von Großbritannien - war also der Landesherr; oberster Justiz- und Verwaltungsbeamter aber war der Amtsverwalter und spätere Amtmann Christoph Sierow. Dieser hatte dafür zu sorgen, dass Ordnung herrschte, dass die Steuern bezahlt wurden und dass die Bauern ihre Hand- und Spanndienste gehörig ableisteten. Bis Maitag 1751 verwaltete Sierow auch die beiden Vorwerke Steinhorst und Mühlenbrook in seiner amtlichen Eigenschaft, dann pachtete er sie privat. Und damit begannen dann jene unaufhörlichen Streitigkeiten mit den dienstpflichtigen Bauern, die fast zu einer Revolution der Untertanen geführt hätten. Sierow, der Pächter, verlangte die Hand- und Spanndienste nunmehr für sich selbst, und Sierow, der Justizbeamte, klagte die Säumigen an und bestrafte sie. Offenbar war der hannoversche Amtmann ein sehr energischer und unduldsamer Herr, ein rücksichtsloser Eintreiber aller Abgaben und Dienste; dabei aber überspannte er den Bogen und nach seinem Tode, 1757, wurde in Steinhorst auch die Amtsbedienung von der Pacht getrennt.

Die „ungemessenen Dienste mit der Hand und dem Spann“ stellten für die Bauern eine drückende Last dar. Sie waren gezwungen, allein aus diesem Grunde immer zwei Spann zu je vier Pferden zu halten, eins für den Herrendienst, eins für die eigene Wirtschaft. Beide Gespanne aber waren nicht das ganze Jahr über beschäftigt und das wieder verführte zum gewerbsmäßigen Frachtfahren. Es versteht sich, dass das letztere wieder oft zu Dienstversäumnissen auf Steinhorst Veranlassung geben musste. Immer und zu allen Zeiten hatte dieser oder jener Bauer Hand- oder Spanntage versäumen müssen, „es war auch so genau nicht genommen worden, und ist das Dienstwesen sehr verworren gewesen“, aber als Sierow auch Pächter geworden war, kam jedes Versäumnis einem Ausfall an privaten Einnahmen gleich und er versuchte mit allen Mitteln, das zu verhindern. Im Herbst 1751 bereits muss Sierow melden, dass die Lüchower mit 25 Spann- und 67 Handtagen im Rückstand seien und er fügt hinzu:

Besonders im Amt Steinhorst sind sehr viele widerspenstige Untertanen, unter ihnen vornehmlich in Lüchow Hinrich Bruhns (E) und Hinrich Stamer (F). Die beiden haben die besten Hufen im Dorf, und letzterer wird deswegen Junker Stamer genannt. Sie fahren aber lieber Kaufmannsgüter und kommen in zwei oder drei Wochen nicht wieder nach Hause. Die alljährlichen Bestrafungen wollen nicht verfangen. Erst neulich habe ich ihnen 20 Rthlr. Strafe aufgegeben, die aber auch nichts genützt hat. Sie lieben das unnütze Leben auf der Landstraße und werden immer froh, wenn sie vom Kaufmann zum Frachtfahren citiret werden, da dann der Wirt, Knecht und Junge mit 10 bis 12 Pferden forteilet, sich aber um den eigenen Haushalt und den Herrendienst nicht kümmert. Was der Bauer nun mit so vielen Leuten und Pferden, auch verschwendetem Futter, zwischen Hamburg und Lübeck, ohne derjenigen Lüchower und anderer zu gedenken, die nach Stralsund, Rostock, Neubrandenburg, Magdeburg, Berlin und Leipzig fahren, auf 9 Meilen verdienen, ist nicht mehr wie 5 Rthlr., er kann also nur mit Verlust an Futter, Wagen und Pferden wieder nach Hause kommen.

Ein wahrhaft abenteuerliches Leben also führten die bäuerlichen Frachtfahrer von anno dazumal, die durchaus mit den Fernfahrern unserer Tage verglichen werden können, und kein Wunder, wenn sie „das Leben auf der Landstraße lieben“. Sonntags, im Anschluss an den Gottesdienst, wurden in Sandesneben die Dienste für die nächste Woche angesagt, aber das Ansagen hatte oft wenig Zweck, wenn die Bauern sich auf Frachtfahrt befanden und erst nach Wochen zurückkehrten.

Am 3. 6. 1752 wurden wieder einmal alle Lüchower auf das Amt beordert. Es erschienen auch alle „nur Junker Stamer war gestern wieder mit Fracht ausgefahren“! Sierow legte allen noch einmal ganz dringend nahe, die schuldigen Hofdienste abzuleisten, wenn sie Leibesstrafen vermeiden wollten, aber die Lüchower erwiderten trotzig, dass sie gerne dienen wollten, aber nur, wenn sie nicht auf Fahrt sind! Sierow wies sogar darauf hin, „dass es im Holsteinischen und Mecklenburgischen üblich ist, die Renitenten mit der Peitsche zum Dienst zu obligiren“, wollte davon jedoch absehen, aber das Gefängnis stellte er jedem Säumigen in Aussicht! Für einen Fortschritt erachteten es die Lüchower schon, „wenn das Amt ein Stundenglas, so vier Stunden läuft, anschafft, um den Dienst danach einzurichten, denn das jetzige läuft nur eine Stunde, welches mit dem öfteren Umkehren so accurat nicht gehalten werden kann“. Ob Sierow wenigstens diesen bescheidenen Wunsch der Lüchower erfüllt hat, ist nicht bekannt.

Aber die Volksseele begann allmählich zu kochen und überzuschäumen. Junker Stamer war es, der sich an die Spitze einer Bewegung stellte und ungescheut einen Weg beschritt, den zu betreten bisher niemand gewagt hatte. Im Herbst 1752 übergab er König Georg dem Andern (Georg II.) in seinem Jagdschloss Göhrde bei Dannenberg, „als Seine Majestät sich in ihren teutschen Landen aufhält“, persönlich einen Beschwerdebrief, in dem die unterdrückten Steinhorster Bauern sich Luft machen und ihr Leid klagen:

Als wir 1739 an Hannover kamen, wurde uns gesagt, dass alles beim Alten bleiben solle, aber Sierows Grausamkeit ist nicht zu bändigen. Früher wurde das Land nur zweimal gepflügt, jetzt aber drei- oder viermal. Die Koppeln der Vorwerke werden durch Ausrodung immer größer gemacht; wir Bauern aber dürfen keinen Strauch auf unseren Feldern abhauen und müssen zusehen, wie unser Land mit Busch zuwächst und unsere Freiweiden werden zu Holzkoppeln gemacht und gelegt. Kessel, Kannen und Grapen werden uns gepfändet, dass wir nicht einmal ein Gericht Grütze und Erbsen uns kochen können.

Kurz darauf geht eine zweite Beschwerde an den König, „dass Sierow uns mit Gefängnis und Ganten, Halseisen und Festmachung an der Kirchentür, Geldstrafen und Pfändungen bestraft, dass uns das Gesinde wegläuft und lieber in Lübeck und Hamburg dienen will, da wir oft nur drei Stunden Nachtruhe haben.“ Nachdem so die Lüchower „sich nicht entblödet hatten, Seine Majestät dreimal anzugehen“, musste notwendigerweise eine amtliche Untersuchung folgen und am 4. 12. 1752 wurden die Bauervögte aller Dörfer und einige andere Eingesessene auf das Amt befohlen, um aus ihnen herauszubringen, wer die Eingaben veranlasst und die Reisen finanziert hätte, vor allem aber wer der „Schriftsteller“ wäre. Alle müssen mehr oder weniger gewunden zugeben, zu den Kosten mit beigetragen zu haben; die Stubbener „beteuern aber höchlich, nicht angefangen zu sein“, und die Labenzer sagen aus, „die Lüchower hätten sie animiret“. Hinrich Groth und Hans Funck von Klinkrade erklären: „Ja, das hätten sie gemeinsam mit den Lüchower verabredet, und jede Hufe hätte 32 Schilling gegeben; den Schriftsteller aber wüssten sie nicht“. Soviel jedoch ergab die Untersuchung, dass der Lüchower Bauervogt Hans Stamer (A), Jochim Pein (H) und Junker Stamer (F) die Anführer gewesen waren und dass die Besprechungen, die „geheimen Zusammenkünfte“, auf dem sonntäglichen Kirchwege und beim Frachtfahren stattgefunden hätten. Die Bauervögte erhielten einen schweren Verweis, „weil sie derartige Heimlichkeiten nicht gemeldet“, kamen also doch noch ziemlich ungeschoren davon.

Und nun kam die Vernehmung der drei Hauptschuldigen, „wer ihnen Vollmacht zu der Klage gegeben und wer der Schriftsteller sei“. Alle drei „blieben aber halsstarrig und verwegen und leugneten, etwas davon zu wissen“! Vom Fleck weg ließ Sierow sie einsperren, und anderthalb Tag hielten sie den Arrest auch aus, dann „lassen sie durch den Gerichtsdiener anzeigen, dass sie den Schriftsteller nun nennen wollen“. Es ist der Bürger Cravaak in Boitzenburg, mit dem sie wahrscheinlich auf ihren Frachtfahrten in Verbindung getreten sind. Obwohl Sierow für alle drei Karrenstrafe beantragt, entscheidet Hannover sehr milde: „zwei Tage Gefängnis für jeden dieser Rädelsführer mit der Hoffnung, dass sie sich bessern“.

Auf Besserung bestand jedoch keine Aussicht; am 20. 2. 1753 muss Sierow vielmehr nach Hannover melden, dass Junker Stamer schon wieder Geld sammle, um eine Reise zum König machen zu können und im März waren die drei in der Tat wieder in Hannover, diesmal bei der Kammer! Nun beantragt Sierow „eine weit schärfere Bestrafung der gottlosen Untertanen; entweder die Karre oder ein paar Sonntage mit dem Kirchen-Halseisen und hartem Gefängnis bei Wasser und Brot“. Die drei Rädelsführer werden wieder nach Steinhorst beordert, erscheinen vorsichtshalber aber nicht. Nach der zweiten Aufforderung kommt nur der Bauervogt Hans Stamer, während Jochim Pein ohne Erlaubnis auf Fracht gefahren ist und Junker Stamer kategorisch antworten lässt, „er wolle, er könne und er werde nicht kommen“! Aber auch der Bauervogt bleibt halsstarrig und will nicht verraten, wer gesammelt und wer Geld gegeben hat; er habe aber keine Schuld, sondern nur Junker Stamer und Hans Funck von Klinkrade. Weiter ist aus dem Bauervogt nichts herauszubringen, und er wird zwei Tage ins Gefängnis gesteckt. Im Juni und Juli werden Junker Stamer und Jochim Pein öfter auf das Amt befohlen, nachdem sie von ihren Fernfahrten zurückgekehrt sind, „bleiben jedoch stets vorsätzlich aus“, bis sie endlich vom Hausvogt arretiert und zwangsweise vorgeführt werden. Beide aber beharren in ihrer Widerspenstigkeit, und die Frage nach dem Urheber beantworten beide: „Das können, das dürfen und das wollen sie nicht sagen!“ Der trotzige Junker Stamer fügt noch drohend hinzu: „Wenn er bestraft würde, werde sich das ganze Amt einfinden!“ Als die beiden ins Gefängnis abgeführt werden - damals noch in einem Stall auf dem Vorwerkshof untergebracht - , beginnt es in der Tat, vor dem Amtshaus lebendig zu werden: Bauern aus allen Amtsdörfern treffen ein, und zwar „ohne Befehl, ein ganz ungewöhnlicher Vorgang“, wie Sierow überrascht feststellt und dazu meldet „Es war eine fast gefährliche Ansammlung. Aber ich habe eine weitläufige Inquisition nicht diensam gefunden, um nicht das ganze Amt in Alarm zu bringen, sondern sie nur ernstlich ermahnet und entlassen.“

Nun endlich reißt auch der Kammer in Hannover die Geduld, und das Maß der beiden Rädelsführer ist voll. Sie ordnet an: Bauervogt Stamer erhält sofort vier Tage Gefängnis bei Wasser und Brot, und die beiden andern sollen vom Hofgericht in Ratzeburg abgeurteilt werden. Dieses verurteilt Junker Stamer zu sechs Monaten Karre „auf dem Kalkberge“ zu Lüneburg, Jochim Pein zu drei Monaten in Harburg. Das war ein Urteil, das Sierow vollkommen befriedigte, und er berichtet über den Fortgang.

Sobald mir das Urteil zugesandt, habe ich alles in der Stille veranlasst und beide vorsichtig zum 12. Dezember aufs Amt citeret. Sind jedoch beide ausgeblieben. Dann habe ich beide festnehmen wollen, die Übeltäter sind jedoch ausgetreten. Endlich habe ich den Jochen Pein im Hause attrapiret und am 31. Dezember nach Harburg abgeführt. Junker Stamer jedoch ist bis heute nicht gefunden, und seine Ehefrau beweist sich auch sehr trotzig und verwegen und zeigt keine Reue. Es verlautet, er habe sich als Soldat in dänische Dienste begeben und sich ab und zu bei Oldesloe sehen lassen. Seine Hufe ist sonst noch gut im Stande.

Ganz so harmlos aber war diese Aktion doch nicht verlaufen, wie aus der Beschwerde hervorgeht, die die Steinhorster Bauern am 11. Februar 1754 an den König richteten und in der es u. a. heißt:

Sierow und sein Schwager Steding (Regierungssekretär in Ratzeburg) haben uns auf tyrannische und barbarische Art tractiret. Hat nachts Lüchow überfallen, Fenster eingeschlagen und ist ins Haus eingestiegen. Der eine Mann (Junker Stamer, F) hat sich geschwinde zu Boden gelegt und ins Heu verkrochen, da hat der Hausvogt mit seinem Degen das Heu durchstechen lassen und den Mann in die Brust eines Gliedes vom Finger lang tödlich verwundet, und er also nackend in das große Frostwetter so blutig davongeeilet, dass seine Frau einen Schlag und das Kind einen Anfall davon bekommen. Den andern Mann, so sie bekommen (Jochim Pein, H), hat Sierow zwölf Wochen nach der Karre gesandt.

Das Schreiben trägt die Namen fast aller Steinhorster Bauern, z.B. aller Klinkrader Hufner, ebenfalls aller Lüchower, auch sogar den des abwesenden „Jochim Petjen“ (= Pein), wobei allerdings hinzugefügt ist: „gehet in die Karre!“ Die Wahrheit lag etwa in der Mitte, denn ein späterer Bericht Sierows sagt.

Habe mich in der Nacht vor Weihnachten nach Lüchow begeben. Jochim Pein hat sich auch ohne Zwang in Haft nehmen lassen; Hinrich Stamers Haus aber ist bei gefundenem Widerstand mittels Aufbrechung des Fensters geöffnet, aber vergeblich durchsucht, indem selbiger sich sofort in das Heu und Stroh verkrochen und ohngeachtet dasselbe nach vorgängiger Warnung mit einem Hirschfänger scharf durchvisitiret, dennoch Gelegenheit gefunden sich davonzumachen, und ist mit Lebensgefahr nackend und bei strenger Kälte davongekommen. Eine würklich geschehene Verwundung ist indessen von ihm selbst nicht angegeben, wie denn auch die Schlagrührung des Peins Frau und Anfall des Stamers Kindes in eine Ohnmacht und Schrecken sich verloren.

Immerhin aber ist das Vorgehen Sierows kennzeichnend für seine strenge Amtsführung, die auch schon aus einer Beschwerde der Bauern vom 30. Oktober 1753 hervorgeht: „Sierow behandelt uns, als wenn wir seine leibeigenen Leute wären. Beim geringsten lässt er uns in das türkische Instrument, den Ganten, schließen, über welche barbarische Verfahren sich die königlich dänischen Untertanen höchst verwundern!“

Der verwegene Junker Stamer aber befand sich in Freiheit und niemand wusste, wo er sich aufhielt. Das Gerücht wollte wissen, dass er beim Oldesloer Scharfrichter untergekommen war und manchmal soll er auch heimlich in Lüchow gewesen sein. Das Gerücht raunte weiter, dass er persönlich zum König nach London gereist sei, aber eines Sonntags taucht er plötzlich in Sandesneben auf und nimmt am öffentlichen Gottesdienst in der Kirche teil! Der sicherlich recht verdutzte und ergrimmte Amtmann Sierow „hat sich sogar unterstanden, ihn in der Kirche gefangen nehmen zu wollen, so Gott aber in Gnaden abgewehret, dass er ihn nicht bekommen“! Sierow wandte alle Druckmittel an, um den Junker in seine Gewalt zu bekommen, und wiederholt ließ er Hinrich Stamers Frau mitteilten, „dass über die Hufe anderweitig disponiret würde“, falls ihr Mann nicht in einer bestimmten Frist zurückgekehrt sei. Keine seiner Drohungen jedoch verfing.

Im Herbst 1754 gelingt es endlich, den berüchtigten Junker Stamer, diesen „verwegenen Untertanen“, zu fassen und ihm und allen andern, die sich an den letzten Beschwerden beteiligt hatten, den Prozess zu machen. Bei Stamer bleibt es bei sechs Monaten Karrenstrafe, acht Bauern erhalten je eine Woche Gefängnis. Dabei stellt sich aber auch heraus, dass Stamer gar nicht selbst nach London gewesen war, sondern dass der Oldesloer Scharfrichter die Post befördert hatte. Als dem Junker Stamer seine unerhörte Dreistigkeit vorgehalten wird, immer wieder an den allergnädigsten König herangetreten zu sein, antwortet er. „der Landdrost von Oldershausen hätte ihm einmal auf seine Beschwerde gesagt, da könne ihm nur Gott oder der König helfen“, und an dieses Wort hätte er sich gehalten! Von einer Straferhöhung wurde bei ihm nur abgesehen, weil er fast drei Monate in Ratzeburg in Untersuchungshaft zubringen musste, die nachher als Strafe mit angerechnet wurde. Diese lange Haft rührte daher, dass im Amte Steinhorst wieder einmal die Viehseuche grassierte und während dieser Zeit jeglicher Personenverkehr über die Amtsgrenze hinaus verboten war, die Verhandlungen in Ratzeburg also immer wieder verschoben werden mussten. Im Sommer 1755 reichte Junker Stamers Frau noch ein Gnadengesuch ein, wurde aber „ab und zur Ruhe verwiesen“, und Junker Stamer musste seine Karrenstrafe in der Festung Lüneburg voll verbüßen.

Tumulte dieser Art sind in Lüchow und im Amt Steinhorst nicht wieder vorgekommen. Die Lüchower, insbesondere Junker Stamer, hatten aber erreicht, dass künftig „die Justice von der Verpachtung separiret“ wurde. Sierow starb am 19. März 1757. In der Sandesnebener Kirche fand dieser „tyrannische Amtmann“ seine letzte Ruhestätte, von der noch die erhaltene Grabplatte unter der Kanzel kündet. Um zwei Jahrzehnte überlebte ihn Junker Stamer, sein geschworener Feind und unversöhnlicher Gegner. Am 11. Juli 1777 starb er, 65 Jahre alt. Auf dem Sandesnebener Kirchberg wurde er bestattet, wie seit fast einem halben Jahrtausend alle Stamer vor ihm. Der Kirchweg von Lüchow nach Sandesneben war sein letzter Weg, den er so oft, strotzend vor Kraft und Übermut, acht- oder zehnspännig hinaufgestürmt war, um für Hamburger oder Lübecker Kaufleute Fracht in die lockende Ferne zu fahren! Ein wahrhaft abenteuerliches Leben, das Leben eines tüchtigen Bauern, eines unruhigen Fernfahrers und eines aufrührerischen Volkstribunen hatte seinen Abschluss gefunden.